Chop Chop. China 2017: Heidelberg, mein Heidelberg


Wer nach Ping Yao reist, tut es wohl in erster Linie wegen der historischen Altstadt, die – so Reiseführer – vor der furchtbaren Umtriebigkeit kommunistischer Städteplaner verschont blieb. Der mittelalterliche Stadtkern soll von beschaulichen Gassen durchzogen sein, an denen hutzelige Tempelhäuser stehen. Die Wandervögel erwarten Heidelberger Hutzel-Idylle, doch beim ersten Kontakt mit Ping Yao drehen sich ihre Mägen um: Betonblocks, mehrspurige Straßen und spukende Chinesen. Sind sie an der falschen Station aus dem Nachtexpress gestiegen? Mitnichten, denn bei verspäteter Recherche stellt sich Ping Yao als Halbmillionen-Metropole heraus – aber eben eine mit mittelalterlichem Stadtkern.


Während des Gewaltmarschs vom Bahnhof in das heidelberger Herz erwacht die Stadt langsam zum Leben. Hupen, stinken, rotzen und Geschrei – China spielt seine Stärken aus. Die noch schlafende Altstadt macht auf den ersten Blick dann tatsächlich einen guten Eindruck, zumal die Zufahrt Kraftfahrzeugen versperrt ist und so die permanente Todesgefahr von einem Moped an- oder einem Auto umgefahren zu werden, weitgehend ignorabel ist. Auch die auf Anhieb gefundene Herberge stellt sich als guter Griff heraus: ein mittelalterliches Schaubild der Hutzeligkeit. Leider können die Wandervögel jedoch erst nach dem mittäglichen Bettenwechsel einziehen und müssen sich über Stunden die Zeit vertreiben.


So streifen sie mit in den Kniekehlen hängenden Mägen durch die Gassen und entscheiden sich zur Einkehr in einer Spelunke, deren Besitzer sie mit den Worten „Coffee, coffee!“ lockt. Aus der in Fantasie-Englisch geführten Karte wählen die Wandervögel mit Gemüse gefüllte Dumpling-Klopse, die sich als furztrockener Gaumenkleber herausstellen und mit Walnusspaste gefüllte Teigschnecken, deren Trockenheit die Dumplings saftig erscheinen lässt. Fürsorglich hat das Personal zudem den „Kaffee“ zu gleichen Teilen mit Mich gestreckt und mit drei Esslöffeln Zucker veredelt – eine vorzügliche Krönung der furchtbaren Frühstücks-Trias.


Derweil transformiert sich die eben noch so beschauliche Altstadt. Übellaunige Händler bauen zahllose Stände auf, an denen sie den immer gleichen Ramsch feil bieten. Vorbei ist es mit dem Idyll. So flüchten sich die Wandervögel in einen Massagesalon, in dem sich Wandervogel 1 durchkneten lassen möchte. Allerdings scheint es sich bei der Masseuse nicht um die erwartete medizinische Bademeisterin zu handeln. Statt dessen scheint die kräftige Frau sich ihre vermeintlichen Kompetenzen durch Internetvideos angeeignet zu haben und walkt den Wandervogel wie ein Schnitzel vor dem Braten. Die Spätfolgen präsentieren sich am nächsten Morgen, als der Wandervogel aussieht, als habe er an einer Straßenschlägerei teilgenommen.

Chop Chop. China 2017: Im rollenden Aschenbecher durch die Nacht


Um etwas Abwechslung in die Fortbewegung zu bringen – und sicher auch um die hunderte von Kilometern zwischen Datong (Betong) und Ping Yao, dem Heidelberg Chinas, möglichst zeitsparend zu überwinden, ohne den Kostenrahmen zu sprengen – reisen die Wandervögel mit dem Nachtzug. Gebucht wurden die Tickets bereits in der Heimat, so dass alles eigentlich nur glatt gehen kann. Zum großen Erstaunen der Reisenden verläuft das Umtauschen der online georderten Gutscheine in die Reisetickets tatsächlich ohne Probleme. Doch spätestens in der Wartehalle zeigt sich angesichts des Panoptikums der Wartenden, dass die Schiene keinesfalls das erhoffte Fortbewegungsmittel der gehobenen Klasse ist.


Neben dem Reisenden, der sein Gepäck in einem mitt Sisal verknoteten Kunstdünger-Sack durch die Halle schleppt, steht ein Rollkoffer-Mädchen, dass ihre Wasserration in einem Spargelglas am Rucksack trägt. Dazwischen die komplette Palette geschmacklicher Fehltritte, die mit heißer Nadel in den Textilfabriken des Landes gefertigt werden. Jeansjacken mit „Port Clarence Academy“-Aufnähern, Frauen in ungeschnittenen Blusen mit Teddybären-Aufdruck und die größte Ansammlung nicht nur schlecht sondern völlig falsch sitzender Hosen, die Wandervögel je bezeugen durften. Dazwischen die versprengte europäische Hipster-Marie mit Reisezwiebel auf dem Kopf, die es den Einheimischen mit übergroßem Kapuzenpullover und das halbe Gesicht bedeckender Brille gleich tun möchte.


Verzerrt-quieckend dröhnt es aus Lautsprechern. Der Zug! Der Zug! Alle Chinesen springen auf und machen das, was sie am besten können – sich in ein vielköpfiges Menschenknäuel verwandeln, das keine geregelte Abfertigung ermöglicht. Zeit für die Ordnungskräfte einzuschreiten und mit viel Geschrei und Gezerre das Knäuel zu entwirren. Vergebens. Noch mehr Geschrei und Gezerre. Dann der größte Fehler der Ordnungskräfte: eine weitere Reihe wird geöffnet und aus dem Nichts quellen hunderte Chinesen, um auch diese als Menschenknäuel zu verstopfen. Die Wandervögel beschauen sich das Spektakel als Zaungäste, schließlich ist das Einlaufen des Zuges noch eine Viertelstunde hin.


Als es schließlich so weit ist, erweist sich das Innere des Schlafwagens auf den ersten Blick als Annehmbar. Beim Zuschalten der weiteren Sinne spüren die Wandervögel allerdings, dass sie wieder im richtigen Film sind. Eine Eigenart des Landes sind Raucherzüge, in denen sich die Chinesen ihre Schlaflosigkeit damit vertreibe, eine nach der nächsten zu stochen, bis alles gelb ist. Analog zum permanenten Pestilenzgestank ist auch die Federung aus der Hölle. Alle zwei Minuten scheppert die Stahlzigarre in ihren Schienen, dass Wandervogel 2 aus Todesangst vor einer Entgleisung nicht in den Schlaf findet. Ganz anders die Mitreisenden, Peng und Li, die um die Wette im Schnarchwald holzen. Gute Nacht und Wiedersehen in Ping Yao.