Chop Chop. China 2017: Duck Duck Go!


Ein neuer Rekord für die Wandervögel. Bereits am zweiten „echten“ Reisetag haben sie sich so verausgabt, dass dessen Morgen mit grauenhaften Klagelauten beginnt, die Zehennägel zum Hochklappen animieren. Wandervogel 1 hat sich die Füße durchgelaufen, Zwo den Rücken ruiniert. Jede motorische Aktivität der Wandervögel – und das Aufstehen ist eine zahlreiche Muskelgruppen involvierende Angelegenheit – hat inbrünstiges Stöhnen zur Folge, so dass die Nachbarn in der Roten Laterne tatsächlich glauben, sie nächtigten im Puff. Doch das Peking-Programm von Wandervogel 2 ist straff durchgeplant und duldet keinen Aufschub, schließlich haben die Wandervögel der Regierung im Vorfeld ihren Reiseplan übermitteln müssen – was sie nicht schaffen, fällt hinten über und Hintenüberfallen gibt es bei den Wandervögeln nicht.


Die erste Station ist der Platz des himmlischen Friedens, besser Platz der sengenden Sonne. Bei 38 Grad im Schatten (*haha* Schatten auf einem baumlosen Platz) schleppen die Wandervögel ihre schweren Schwingen vorbei an den stets aufmerksamen Soldaten, die ihren Teil zur Sicherheit der Volksrepublik leisten, indem sie stramm stehen und möglichst keine Miene verziehen. Nicht einmal als Olga von Wolga, eine Russen-Mutti mit vulgärem Habitus und Rhabarber-farbenem Haar, ihren Sonnenhut lupft, um neben den strammen Jungs zu posieren. In einer Paralleldimension, in der Wandervogel 2 in China Wehrdienst geleistet hätte, wäre Olgas Mann an diesem Tag ein glücklicher Witwer geworden.


Wer in Peking isst, muss Peking-Ente essen. So machen sich die Wandervögel auf eine Expedition in die verwundenen Seitenstraßen eines Hutongs, wo es im Liqun Roast Duck – laut veraltetem Reiseführer – das beste Knusper-Schnabeltier der Stadt serviert wird. Tatsächlich grüßen goldbraune, gerupften Fettvögel die eintretenden Wandervögel, als sie durch ein winziges rumpeliges Entree schreiten, vor dem das Personal raucht. An den Wänden hängt das Wer-ist-Wer der Pekingenten-Freunde: Al Gore, Chow Yun-fat, Jet Li. Alle waren Sie hier, die Wandervögel sind richtig. Allerdings ist das Etablissement bis zum Bersten gefüllt. Ein Plastikschemel muss als Sitzgelegenheit reichen, während emsige Hände tranchieren, servieren und frittieren. Das Ergebnis vereint die besten geschmacklichen Eigenschaften des Fettvogels mit der Knusprigkeit einer Schweinshaxe. Kann man schon machen, Haken hinter.


Um die Ente zu verdauen, soll es in den Temple of Heaven Park im Herzen der Stadt gehen. Leider haben die Wandervögel einen denkbar ungünstigen Ausgangspunkt gewählt und müssen die großzügig dimensionierte umzäunte Grünanlage zunächst umrunden. Dem inneren Kompass von Wandervogel 1 folgend („Hier ist eine Abkürzung!“) führt der Weg vorbei am Betrieb des örtlichen Spezialisten für Matratzen-Verwertung und dem geheimen Pausenort der Müllwerker, wo die für Ordnung sorgenden Außendienstler ihre beladenen Karren in der Sonne gären lassen. Diese auch olfaktorisch denkwürdigen Eindrücke entschädigen dafür, dass die tatsächliche Ersparnis des Schleichweges gen Null tendiert.


Die Grünanlage bleibt dann deutlich hinter den hohen Erwartungen der Reisevögel zurück. Einzig die zahlreichen zum Verweilen einladenden Parkbänke in den Kiefernhainen bleiben positiv in Erinnerung. Von hier aus können sich die Reisende ein ausgiebiges Bild von der Geschmacklosigkeit machen, mit der sich die Pekinesen kleiden. Auf Oberteilen dominieren 80er-Jahre-Motive – Micky Maus, Donald Duck, pastellfarbene Dreiecke und andere geometrische Scheußlichkeiten. Statt Floralem oder Ornamentalem geht der Trend zu Konkretem mit Aussagen wie „12345“, „Sports Club“ oder „My Life Go“. Bei der Fußbekleidung lautet das Motto: Alles egal, Hauptsache schlurfig. Wichtig ist, dass auch ohne ein Heben der Füße eine uneingeschränkte Fortbewegung möglich sein muss. Selbst heimische Kik-Märkte erscheinen angesichts der chinesischen Zustände wie ein Mode-Mekka.

Da sie ohnehin gerade in der Nähe sind, machen die Wandervögel einen Abstecher auf den Panjiayuan Markt. Der Reiseführer verspricht Kunsthandwerk bis zum Abwinken und einzigartige Atmosphäre. Allerdings zeigt auch hier die Realität ihre häßliche Fratze. Im Angebot sind lediglich polierte Halbedelsteine, Ketten aus Holzkugeln und mit Kaligraphie verziertes Pergament. Diese drei Produkte allerdings in millionenfachen Ausführungen, Halbedelsteine, Ketten und Unleserliches, so weit die Augen reichen.


So entschließen sich die Wandervögel, es mit dem Tag bewenden zu lassen und einzukehren. Da sich nach all der Rennerei ein beträchtliches Hungergefühl einstellt, kehren sie in der nächstbesten Kaschemme ein und ordern Bier und die Karte. Unerwartet haben die Reisenden den Weg in ein Spezialitätenlokal gefunden: Es gibt neben Beilagen ausschließlich aus Esel bestehende Gerichte. Getrieben vom Forschergeist ordern sich die Reisenden zwei mit Esel-Geschnetzeltem gefüllte Baguettes, die sie zwischen rauchenden, auf den Boden rotzenden und sich aufgrund der warmen Witterung auch gerne mal das Leibchen über die Wampe klemmenden Pekinesen verzehren. Mahlzeit!

Chop Chop. China 2017: Maler und Lackierer


Für den ersten Tag im Land des Speiens hat Wandervogel 1 ein straffes Programm zusammengestellt. Zunächst geht es durch die engen Gassen der Umgebung. Die Pekinesen nennen diese Viertel voller Wäscheleinen und ungewöhnlich vieler öffentlicher Bedürfnisanstalten „Hutong“. Der gewundene Weg führt zu zwei Türmen, dem Drum- und Bell-Tower, in denen Chinas größte Glocke und zahlreiche Trommeln aufgestellt sind. Bevor es diese jedoch zu bestaunen gibt, müssen sich die Wandervögel entlang steiler Steigen über viele Stufen quälen. Dafür entschädigt der Ausblick über die umliegenden Hutzelgassen, nicht jedoch für das Gezeter, der von ihren Eltern verzogenen Mini-Pekinesen.


Das anschließende Vorhaben, die Verbotene Stadt durch den Hintereingang zu betreten, stellt sich als mittelschlau heraus. Um einem zermürbenden Fußmarsch vorzubeugen, entscheiden sich die Wandervögel für den Bus zur offiziellen Eingangstür. Nachdem die maximale Tragfähigkeit des Gefährts bis über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus ausgereizt wurde, startet die Fahrt – die sich wider Erwarten als vollkommentierte Touristenrundreise herausstellt, was in der Rückschau den vergleichsweise horrenden Ticketpreis erklärt. Zu schrillem verzerrten Quäken aus miesen Lautsprechern geht es um die Sehenswürdigkeit. Während die Wandervögel schließlich die roten Mauern durchschreiten, werden sie unverhofft Zeugen chinesischer Handwerkskunst: Ein Trupp missmutiger Arbeiter soll der Fassade einen neuen Anstrich verleihen. Dabei stellt sich heraus, dass der wohl telefonisch erteilte Auftrag: „Rot!“ Nicht spezifisch genug war. Fortan rahmt ein farbfleckiges rotes Kunstwerk das Porträt des großen Vorsitzenden. Am nächsten Tag werden wohl Köpfe rollen, wenn die Maler-Ausrede, nach dem Trocknen sähe alles super aus, sich als billige Lüge entpuppt.


Die verbotene Stadt besteht aus einer Reihe von für den Publikumsverkehr gesperrten Hallen, die durch weitläufige Höfe miteinander verbunden sind. In den Hallen befinden sich meist abgewetzte ungemütliche Sitzmöbel, von denen aus der Herrscher seine Ansagen machte. In verwaistem Zustand ist der Eindruck dann nicht mehr ganz so imposant – was andere Besucher nicht davon abhält, dutzende Fotos von den verwaisten Sitzmöbeln zu machen. Royal geht halt immer beim gemeinen Volk.

Der nächste Stop des ersttäglichen Gewaltmarsches ist der Jingshan Park, eine Grünanlage auf der Rückseite der Verbotenen Stadt. Aufgeschüttet aus dem Geröll, das für den Burggraben der Kaiserresidenz abgegraben wurde, soll der Park gutes Feng shui bringen und Staub abhalten. Im Wesentlichen dient Jingshan jedoch mittlerweile Rentnern als Bühne für ihre Bewegungsspiele. Betagte Pekinesinnen tanzen mit Gymnastik-Girlanden über Waschbeton, ein Hauch von Vergänglichkeit weht durch Beijing. Doch davon lassen sich die Wandervögel nicht runterziehen und setzen den Todesmarsch fort.


Hunger treibt die Reisenden zu einem sagenumwobenen Food Market. Doch die Welt dreht sich schneller, als der Verlag mit dem Auflegen des Reiseführer nachkommt. Irritierte Pekinesen antworten auf die wohl formulierten Wegfragen mit ahnungslosem Achselzucken, bis schließlich dämmert, dass die Fressmeile ihre Tore dauerhaft geschlossen hat. Doch Peking ist groß und knapp einen halben Kilometer vom angepeilten Standort entfernt findet sich ein alternatives Fressmekka. Sich windende Skorpione auf Spießen, Würstchen am Stock und Allerlei Unsinn aus dem Meer tischen die engagierten Straßenköche auf.


Die Wandervögel mampfen sich durch Frühlingsrollen, die sie mit überteuertem Joghurt und verbrecherisch vermittelten Dumpling-Klopsen („Angefasst! Bezahlen! Gleich fünf Stück! Danke, bitte, weitergehen!“) beschweren. Als Absacker gönnen sich die beiden Reisenden in einer Seitengasse stattliche Biere. Vergällt wird der Genuss allerdings durch eine der Jingshand-Rentnerinnen, die in nervtötender Weise Weisen aus der Peking-Oper vorträgt. Die Bilanz: 21,8 Kilometer, zwei Blasen unter den Füßen, einmal amtlich über den Tisch gezogen.

Chop Chop. China 2017: Touchdown in Beijing


Nach den Warten kommt das Warten. Mit ihrem Marschgepäck stehen die Wandervögel im Halbdunkel am Bordstein und warten auf den Bus, der sie vom Flughafen in das Zentrum der chinesischen Metropole bringen soll. Während das dünn besetzte Gefährt durch die Dämmerung braust und die Wandervögel erschöpft in sich zusammensinken, ist eine Person ganz aus dem Häuschen: eine Runzeloma, die es während der 50-minütigen Tour einfach nicht auf ihren winzigen Pobacken hält und die halb im Gang stehend jeden Meter der Fahrt so aufgeregt verfolgt, als tuckerte sie in einer goldenen Yacht den Regenbogen entlang.


Vorbei an den vulgär-massiven Prunkbauten des Sozialismus, die in nächtlicher Beleuchtung noch vulgärer aussehen, geht es in das Herz von Peking. Eine lange Fahrt durch die große Schwester der Karl-Marx-Allee. Nach dem Ausstieg lassen die am Wege lagernden Taxifahrer sich nicht lange bitten, doch die Wandervögel haben kein Interesse daran, ihre Zeit und von der Reise abgewetzten Nerven damit zu vergeuden, überzogene Preisforderungen zu verhandeln. So geht es dann in den Bus – und weil die Wandervögel nur Papiergeld haben und der Fahrer nicht herausgeben kann, lässt er sie gönnerhaft kostenlos mitfahren.


Die Endstation der Wahl haben die Wandervögel dem Fahrer gegenüber durch wiederholtes intensives Deuten auf ein Schriftstück unmissverständlich klar gemacht. Kurze Zeit später stehen sie inmitten des regen Treibens dutzender radelnder, hupender und vor allem rotzender Pekinesen. Vor allem das, durch Hochziehen der Nase und Rachen, Lockern von Körpersekreten, die anschließend je nach Geschick oder Technik mehr oder minder schwungvoll durch den Mund den Körper verlassen – manches fliegt und klatscht, manches hängt über bange Sekunden von der Lippe, bevor es auf dem Leibchen endet – erscheint als eine beeindruckende Eigenart der Gastgeber, die man schwerlich als reizend bezeichnen kann.


Wenngleich der Name „Red Lantern Hotel“ einen Amüsierbetrieb vermuten lässt, stellt sich die gebuchte Unterkunft als durchaus passabel heraus. Allerdings scheint der Inhaber bezüglich seiner beruflichen Zukunft unentschlossen, denn die zur Herberge umgebaute Fahrzeughalle ist gleichermaßen Koi-Aufzuchtstation: hunderte unförmige Goldfische blubbern und schnorcheln unter den von der Decke hängenden Lampions auf denen Jahrzehnte der Ignoranz haben zentimeterdicke Staubschichten haben wachsen lassen. Diese mangelnde Hingabe zu Hygienischem bereitet die Wandervögel jedoch sehr gut auf den Besuch im nachbarlichen Etablissement „Zum schmierigen Stäbchen“ vor, wo die Gäste selbst die Biergläser polieren, wenn sie Kaltgetränke ohne Schleimfilm bevorzugen.

Chop Chop. China 2017: Prolog im Himmel


Woran es genau gelegen hatte, das konnte Herr Li bei der abendlichen Befragung im Polizeirevier gar nicht sagen. Er gab zu Protokoll, er habe sich schlichtweg ’nicht danach gefühlt‘ aufzustehen, in den Bus zu steigen und wie an jedem andere Tag auch zu seiner Arbeitsstelle zu fahren. Da sei er eben liegen geblieben. Aber er habe ja auch nicht ahnen können, dass sein Kollege Herr Peng sich krank gemeldet hatte. Wie auch? Wenn er gewusst hätte, welches Chaos an diesem Montag ausgebrochen wäre, sicher hätte er anders gehandelt. Da war es aber schon zu spät.

Und so trug es sich zu, dass an diesem schicksalshaften Montag, dem 4. September 2017 eben keine psychologischen Leitsysteme auf dem Flughafen von Peking aufgestellt wurden. Just an diesem Tag, als sich Peng krank meldete und Li sich von der Unlust übermannt fühlte, verzeichnete der Flughafen einen Rekord. Noch nie waren dort so viele internationale Passagiermaschinen in einem so kurzen Zeitfenster gelandet. Eine logistische Meisterleistung, durch die Herr Long sich endlich seine lange in Aussicht gestellte Beförderung sichern wollte. Eine Verkettung von Ereignissen, wie sie denkbar ungünstiger kaum hätte ausfallen können.


Und so ergoss sich an diesem sonnigen, 29 Grad warmen Tag dann ein nicht enden wollender Strom aus Reisenden – unter ihnen viele Laute und Schwitzende – in das Terminal; eine tausendköpfige Masse, die zielsicher ihren Weg in die Halle mit den 25 Schaltern fand, an denen die Grenzer gedankenverloren mit ihren Stempeln spielten und den Strom gelangweilt nadelöhrten.

Als das höhere Wesen an diesem Montag auf seine Schöpfung nieder blickte, seufzte es tief und vergrub sein Gesicht in den Handflächen. Keine Spezies hatte es mit so viel kognitivem Potenzial gesegnet und nun stellten sich die Kreaturen als zu dämlich heraus, selbsttätig Reihen zu bilden, um einen geordneten Fluss zu ermöglichen. Statt dessen zogen sie es vor, möglichst ungeordnet drängelnd die Halle für die Passkontrolle am Pekinger Flughafen zu verstopfen. Eine Frau verlor die Nerven, schrie und warf sich auf den Boden, den sie mit ihren Fäusten bearbeitete. Chaos würde ausbrechen. Es würde mal wieder ein Bauernopfer brauchen, damit sich die Ereignisse nicht überschlugen und die Welt in Trümmern versank. Herr Li sollte dem höheren Wesen als Sündenbock reichen.


Leicht verknittert erwachten die Wandervögel, als der bis auf den letzten Platz besetzte Flieger zur Landung auf Peking ansetzte. „Das Schlimmste haben wir hinter uns“, fasste Wandervogel 2 die weitgehend ereignislose Anreise für Wandervogel 1 zusammen. „Bestimmt“, seufzte Wandervogel 1 und streckte sich.

Das höhere Wesen beschloss, sich das chaotische Treiben noch eine Weile anzusehen, und machte sich ein Bier auf und griff in die Schale mit Kartoffelchips. Während es sich schadenfroh zurücklehnte richtete er seinen Blick auf die beiden blonden und leicht verknitterten Reisenden, die in fröhlicher Unwissenheit in das Terminal schlenderten. „Wenn die wüssten… zwei Stunden wie die Sardinen für drei Minuten Passkontrolle.“