Chop Chop. China 2017: Im rollenden Aschenbecher durch die Nacht


Um etwas Abwechslung in die Fortbewegung zu bringen – und sicher auch um die hunderte von Kilometern zwischen Datong (Betong) und Ping Yao, dem Heidelberg Chinas, möglichst zeitsparend zu überwinden, ohne den Kostenrahmen zu sprengen – reisen die Wandervögel mit dem Nachtzug. Gebucht wurden die Tickets bereits in der Heimat, so dass alles eigentlich nur glatt gehen kann. Zum großen Erstaunen der Reisenden verläuft das Umtauschen der online georderten Gutscheine in die Reisetickets tatsächlich ohne Probleme. Doch spätestens in der Wartehalle zeigt sich angesichts des Panoptikums der Wartenden, dass die Schiene keinesfalls das erhoffte Fortbewegungsmittel der gehobenen Klasse ist.


Neben dem Reisenden, der sein Gepäck in einem mitt Sisal verknoteten Kunstdünger-Sack durch die Halle schleppt, steht ein Rollkoffer-Mädchen, dass ihre Wasserration in einem Spargelglas am Rucksack trägt. Dazwischen die komplette Palette geschmacklicher Fehltritte, die mit heißer Nadel in den Textilfabriken des Landes gefertigt werden. Jeansjacken mit „Port Clarence Academy“-Aufnähern, Frauen in ungeschnittenen Blusen mit Teddybären-Aufdruck und die größte Ansammlung nicht nur schlecht sondern völlig falsch sitzender Hosen, die Wandervögel je bezeugen durften. Dazwischen die versprengte europäische Hipster-Marie mit Reisezwiebel auf dem Kopf, die es den Einheimischen mit übergroßem Kapuzenpullover und das halbe Gesicht bedeckender Brille gleich tun möchte.


Verzerrt-quieckend dröhnt es aus Lautsprechern. Der Zug! Der Zug! Alle Chinesen springen auf und machen das, was sie am besten können – sich in ein vielköpfiges Menschenknäuel verwandeln, das keine geregelte Abfertigung ermöglicht. Zeit für die Ordnungskräfte einzuschreiten und mit viel Geschrei und Gezerre das Knäuel zu entwirren. Vergebens. Noch mehr Geschrei und Gezerre. Dann der größte Fehler der Ordnungskräfte: eine weitere Reihe wird geöffnet und aus dem Nichts quellen hunderte Chinesen, um auch diese als Menschenknäuel zu verstopfen. Die Wandervögel beschauen sich das Spektakel als Zaungäste, schließlich ist das Einlaufen des Zuges noch eine Viertelstunde hin.


Als es schließlich so weit ist, erweist sich das Innere des Schlafwagens auf den ersten Blick als Annehmbar. Beim Zuschalten der weiteren Sinne spüren die Wandervögel allerdings, dass sie wieder im richtigen Film sind. Eine Eigenart des Landes sind Raucherzüge, in denen sich die Chinesen ihre Schlaflosigkeit damit vertreibe, eine nach der nächsten zu stochen, bis alles gelb ist. Analog zum permanenten Pestilenzgestank ist auch die Federung aus der Hölle. Alle zwei Minuten scheppert die Stahlzigarre in ihren Schienen, dass Wandervogel 2 aus Todesangst vor einer Entgleisung nicht in den Schlaf findet. Ganz anders die Mitreisenden, Peng und Li, die um die Wette im Schnarchwald holzen. Gute Nacht und Wiedersehen in Ping Yao.

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