Íngreme. Madeira 2020: Unter Bauern

Nach einem atlantischen Sonnenaufgang und Frühstück mit örtlichen Käsespezialitäten, wollen die Wandervögel die Vorteile ihrer Lage auskosten und machen sich auf den Weg zur fußläufigen Meeresbadestelle. Wider erwarten geht es aber nicht in die Fluten sondern die Reisenden marschieren resigniert wieder den Berg hinauf in die Butze, nachdem der einem entspannten Arbeitstag entgegenblickende Bademeister sie aufklärt: Die Kanalisation sei defekt und das Baden verboten. Als hätten sich die Rohre keinen anderen Tag zum Bersten aussuchen können. Als Plan B zieht die Reiseleitung kurzerhand den nächsten Programmpunkt vor: den Besuch der legendären Korbflechterei in Camacha.

Nach endlos mäandernden Serpentinen am Ziel, bleckt Corona den Reisenden ihre häßlich Fratze entgegen. Alles ist verrammelt und verriegeln, nur die Exponate in den Scheiben deuten an, welch filigranes Kunsthandwerk, welch vielfältiger Möbelgenuss hier verborgen bleibt. Den tröstenden Blick auf das Meer stört ein sehr anhänglicher buckliger Bettler, der sich den Wandervögeln als Fremdenfrührer andient. Mit quitschenden Reifen lassen sie das Mekka der Korbflechterei hinter sich und hetzen zum nächsten Punkt auf der Reiseagenda: dem authentischen Bauernmarkt von Santo António da Serra.

Der Reiseführer facht die Vorfreude an: „Der Ort Santo da da Serra ist eher bedeutungslos und ohne besondere Sehenswürdigkeiten. Schweinezucht und Futtermittelanbau gehören neben dem Tourismus zu den Haupteinnahmequelle.“ Als erster Botin des Bauernmarktes begegnen die Wandervögel in einer Haarnadelkurve einer alten Frau, die Vorbeifahrenden Schnittblumen feil bietet. Zwei Kurven weiter genießen zwei Junge Männer den Schatten, der der gewaltige Berg aus zu veräußernden Zwiebeln ihnen spendet. Dass sie auf der richtigen Spur sind, erkennen die Wandervögel an einem Paar Großmütter, die aus einer Bushaltestelle heraus Spitzkohl anbieten.

Derart angespitzt erweist sich der eigentliche Markt als eher unspektakulär. In der non-food-Abteilung gibt es allerlei Unsinn aus Kork und Korb, Lederwaren und aus China herangeschifften Schrott wie Brontosaurierer-Spielzeug mit Drachenflügeln, bekannt aus dem Welterfolg ‚Jurassic Thrones‘. Im food-Bereich gruppieren sich indes Männer auf Kinderstühlen um Kindertische um aus Kinderbechern Bier zu trinken, während sie mit Zahnstochern Nudeln von einem Kinderteller aufspießen. Drei Meter Luftlinie entfernt grillt ein sonnengegerbter Meisterkoch fettige Rindswurst über einer Wanne voller Feuerzeugbenzin. Dazu erdiger Kartoffelduft und das spritzige Aroma von Passionsfrüchten und frisch aufgeschittener Kaktusfeigen – Es ist Landgenuss, den man mit allen Sinnen erleben darf/muss.

Wandervogel 2 überkommt der kleine Hunger, im Anschluss gesellt sich die Reiseleitung hinzu: Burger und Pommer aus der örtlichen Manufaktur aus dem immobilen Foodtruck. Platziert werden die wartenden neben dem Verkaufsbereich der Vogelhändlerin, mitten im Wellensittich-Inferno. Die Wartezeit vertreibt sich Wandervogel 2 mit dem übersetzen der Speisekarte. Alle Farbe schießt aus seinem Gesicht, als er die Bedeutung des ersten Wortes ‚cachorro‘ erfasst. ‚Hund‘. Stammleser und die Protagonisten fühlen sich schlagartig an die China-Anekdote erinnert, in der sich die Weltreisenden Eselburger servieren ließen. Angstvoll übersetzt der Wandervogel weiter. Das folgende ‚quente‘ soll ‚heiß’ bedeuten. Wurst im Brot also? Na dann Mahlzeit.

Als nächste Aktivität hat die Reiseleitung das Walmuseum in Caniçal angepeilt. Der Reiseführer zu Caniçal: „Das kleine Caniçal ist nicht gerade ein Juwel, selbst die Plätze und die Uferpromenade laden nicht zum Verweilen ein – von Fischerromantik keine Spur. Auch die kürzlich restaurierte Kirche ist kein Hingucker.“ Der Umstand, dass der Desinfektionsspender im Eingangsbereich ein schmieriges gallertartiges Sekret von sich gibt, macht die Entscheidung leicht: keine Wale, sondern nichts wie weg.

Als letzte Aktivität hat die Reiseleitung eine Wanderung vorgesehen, bei der die Ostspitze der Insel zur Erkundung ansteht. Knapp drei Stunden geht es bei Regen wie sengender Sonne und frischen Winden über die zerklüftete Landschaft – von Blumeninsel keine Spur. Viele Spuren hinterlassen indes die zahllosen Idioten, die abseits der Pfade durch die Botanik trampeln und für ihre Instagram-Fotos Steine zu pyramidalen Haufen aufschichten. Da Wandervogel 2 nicht alle töten kann, fokussiert er seinen Hass auf die Teilmenge der Spacken, die sich das Naturerlebnis durch stumpf stampfende Chartmusik aus Bluetooth-Lautsprechern erträglich machen müssen. Just als Wandervogel 2 seinen schäumenden Instinkten freien Lauf lassen will, ein Fall von göttlicher Intervention: 180-Grad-Regenbogen. Das sind dann auch die Spacken kurz vergessen.

Íngreme. Madeira 2020: Aufbruch ins Ungewisse

Während sich die Morgensonne noch mühselig über die Förde quält und ihre ersten Strahlen über den Norwegenkai in das Herz der Stadt sendet, sind die Wandervögel längst gewaschen, gescheitelt und schwer bepackt. Der Ruf des Abenteuers hat sie zu unsäglicher Zeit aus dem Schlaf der Gerechten gerissen und so stehen sie nun am bussernen Flughafen-Zubringer. Von den Mitreisenden heben sie sich unter anderem durch ihre strategische Abgekochtheit ab, die sie wie ein feiner Streif umschmeichelt. Manifest in Form zweier Negativer Corona-Tests in ihren Brustbeuteln – damit sie bei der Ankunft nicht wie Vieh in Wartehallen gepfercht und anschließend in Selbstisolation auf das Ergebnis warten müssten. Stichwort: nonchalant im Atlantik spaddeln, während andere in ihren Bettenburgenzimmern noch auf Ergebnisse warten. Natürlich wird alles anders kommen.

Wider Erwarten ist am Helmut-Schmidt-Flughafen großes Hallo. In engen Schlangen stehen sich Reiselustige mit illustrer und schräg anliegender Gesichtsbekleidung – beeindruckend: ein Mitreisender, der mit korrekt aufgesetzter Gesichtsbedeckung tief in der Nase bohrt – in engen Schlangen die Beine in den Bauch. Aber warum auch nicht, ist ja Wochenende, kann man ja mal wegfliegen. Aufgrund idiotischer Menschenführung sorgen die Flughafenbetreiber vor der Leibesvisite noch mal für ordentlich Verdichtung, bevor die Reisenden schließlich in einer abgelegenen Ecke ihre Käsebrötchen mümmeln können. Es folgt ein stilloser Flug dessen Höhepunkt die Landung auf Europas anspruchsvollstem Runway ist. Pointe vorab: Die Fallwinde machen Pause, niemand verendet im Meer. Hallo Blumeninsel, die Wandervögel entern Madeira.

Freudig recken die Wandervögel dem Personal ihre Mobiltelefone mit strahlenden Barcodes entgegen. Scannt sie, um von ihrer zertifizierten Reinheit zu erfahren. Macht das Personal dann auch, um sie umgehend am zu testenden Pauschalreise-Vieh vorbei an die frische Luft zu schicken. Dort lässt dann allerdings der Shuttle-Service des Mietwagenunternehmens derart lange auf sich warten, dass die Reisenden mitansehen müssen, wie auch die letzte humpelnde Pauschalreise-Oma nach ihrem Vor-Ort-Test zum Abschied winkend im klimatisierten Reisebus Richtung Bettenburg davon fährt. Aber irgendwann am späten Nachmittag nehmen die Wandervögel dann – nach dem unsäglichen Versuch ihnen eine zweite Vollkasko-Versicherung aufzuschwatzen – in einer Tiefgarage den Schlüssel für einen weißen Fiat Punto entgegen.

Eine tückische Fahrzeugwahl, wie sich bereits beim Verlassen des Parkhauses herausstellt. Per Dekret eines irren Regenten gibt es auf der Insel keine plane Straße. Im Gegenteil ist jeder Fleck Asphalt mit derart perverser Steigung versehen, dass Wandervogel 2 sich sehnsüchtig nach dem Landrover Defender umblickt, während er sich in der Türverkleidung der untermotorisierten Nuckelpinne festkrallt. So geht es, mit einem Stop im nächsten Supermarkt, um die Vorräte an Brathähnchen und Pommes aufzufüllen, zielstrebig zum Apartment in Hanglage. Für die geschmacklose IKEA-Vollausstattung entschädigt der 270-Grad-Blick über den Ozean, den die Rallye-Fahrer mampfend auf dem Balkon aus Plastikstühlen genießen.