Lujasogi. Bayern 2020: Kein Hitler, kein Essen

Zwei Tage auf der Thai-Alm reichen. Alles ins Auto und ab dafür, auf zu Hitlers Wohnzimmer – wenn man schon mal in der Gegend ist. Aus der Besichtigung des Kehlsteinhauses wird dann doch nichts, keine wohlige Wärme aus dem Duce-Kamin, kein Blick aus dem Panorama-Fenster, denn der Berghof des Diktators, im Besitz des Freistaates, ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Also verlassen die Wandervögel das Führersperrgebiet und es geht bei sportlicher Fahrweise und 20 Litern auf 100 Kilometern die Roßfeldpanoramastraße entlang.

Schon in der ersten Kurve der Panoramaroute entlang der Österreichischen Grenze zeigt sich die Überschaubarkeit der Welt, als die Wandervögel Landspersonen mit PLÖ-Kennzeichen treffen. Die scherzhaft gemeinte Frage von Wandervogel 2, ob man auch falsch abgebogen sei, beantworten die Plöner wahrheitsgemäß: Tatsächlich sei man im Tal falsch abgebogen und suche nun nach einer Möglichkeit zum Wenden. Fassungslos steigen die Wandervögel ein und lassen die Menschen mit ihrem Wohnmobil hilflos in den Serpentinen zurück. Ganz so weit her ist hier mit der Landsmannschaft dann doch nicht. Zum Ausgleich für die Niedertracht gegenüber ihren Mitmenschen erweist sich die Panoramaroute als verzichtbar, wenn man das Jenner-Panorama genoss – Maut als Lehrgeld.

Kein Tag ohne Klamm, auf der Agenda die Wimbachklamm in Ramsau. Zu Füßen des Watzmanns gibt es viel Moos auf wenig Strecke, denn schon nach 200 Metern ist das aufgrund der Wasserfülle ein wenig an das Azoren-Abenteuer erinnernde Naturerlebnis vorbei. Perfekt für das Reisetempo der Wandervögel, Haken hinter, ab dafür. Nächster Halt: Hintersee. So attraktiv wie der Name vermuten lässt und nicht einmal ein Foto wert, geschweige denn die Gebühr für den Parkplatz. Haken hinter und ab dafür.

Auf dem Weg zur nächsten Etappe passieren die Wandervögel ein ihnen bislang unbekanntes Verkehrszeichen mit der Unterschrift „Rinderrost“. Während die Rasenden sich witzelnd darüber austauschen, ob Kühe tatsächlich zur Verbreitung von Korrosion fähig sind, nähern sie sich unbemerkt einer tödlichen Falle, mit der der freiläufige Zoo von Singapur seine Gehege trennt: der Rinderrost, in die Fahrbahn eingelassene Quer zur Fahrtrichtung stehende Streben, die Viehzeug am Kreuzen hindern sollen. Aus dem Augenwinkel erfasst Wandervogel 1 die Gefahr, stemmt sich in die Eisen und bugsiert den Boliden geschmeidig über das Hindernis. Am Tod vorbei, der mit seiner Schippe am Wegesrand wütend fuchtelt.

Garmisch-Partenkirchen – im Marketing-Slang „GaPa“, Station der Vierschanzentournee, erweist sich als schizophrener Ort. Während der eine Ortsteil sich als gesichtsloses Nest mit Camp-David- und Finn-Comfort-Flagship-Stores herausstellt, zeigt sich der andere von seiner hutzelig-fachwerklichen Seite. Bedauerlich nur, dass in Corona-Zeiten in keinem der Teile nach 18 Uhr ohne vorherige Reservierung an ordentliches Essen zu denken wäre. So bleibt den Wandervögeln nur eine improvisierte Brotzeit auf dem Balkon. Auf dem Tisch regionale Spezialitäten aus dem von zugezogenen Halbstarken belagerten Edeka, die Wandervogel 2 todesmutig in das Fußgängerzonen-Hotel schafft. Dicke Backen über den Blechdächern der Schanzenstadt.

Lujasogi. Bayern 2020: Auf der Asia-Alm gibt‘s a Massage

Eine Nacht im Beton-Bunker später und der Hunger treibt die Wandervögel aus den viel zu weichen Betten. Die Herberge hat nichts zu bieten und so geht es in die Altstadt. Doch im Frühstück-Verständnis offenbaren sich kulturelle Unterschiede zwischen Norddeutschen und Franken. Würden sich erstere schon mit Kaffee, Ei und Käsebrot zufrieden geben, setzen letztere auf Knödel, Rotkraut und Schweinsbraten. Während Wandervogel 2 darbt, gönnt sich Wandervogel 1 ein mehrstöckiges Frühstückseis. Eine tückische Entscheidung, denn das einzig annehmbare Frühstücks-Etablissement des Ortes verwehrt den Hungrigen mit und wegen des Eises die Bedienung. Dann eben nicht! Ihren eigenen Prinzipien die Treue haltend, schlurfen sie von dannen und erkunden den Ort.

Der erweist sich als hochgradig hutzelig. Die Vorgärten der Wohnbebauung entlang des Regnitz-Ufers ragen als Klein-Venedig der ehemaligen Fischersiedlung ins Wasser und durch übermäßige Energie beflügelte Kanuten schlängeln sich durch die angestauten Fluten des Flüsschens. Idyllisch mit großem I, viertürmiger Dom, völlig überteuerte Regnitz-Rundfahrt – aber eben kein Frühstück, so dass die Wandervögel sich in ihr Fahrzeug begeben und weiter nach Süden preschen. Auf Wiedersehen Franken, willkommen in Oberbayern.

Entgegen der Warnungen, Pfingsten würde auf den Autobahnen für Chaos sorgen, geht es geschmeidig über den Asphalt. Vorüber fliegen Chiemsee und München, ehe sich am Horizont die echten Berge zeigen. „Schönau am Königssee grüßt die Wandervögel“ steht zwar nicht am Ortseingang, dafür hängen vielendrige Geweihe an Hauswänden und Menschen legen mehr Wert auf die Familienzugehörigkeit, denn das selbst. Hier heißt man „Huber Alois“ und „Achleitner Sepp“, ist gottesfürchtig und sparsam, selbst wenn günstige Kommata sich gehörten. Kirchenglocken sind die Bassline des Soundtrack Niederbayerns, Kuhglocken-Geläut punktiert die Noten.

Inmitten all diesen Idylls, abseits der sogenannten Zivilisation, steht die Unterkunft der Wandervögel: eine labyrinthische Bettenburg im Almhausstil. Durch Abwesenheit von Personal gestaltet sich der Check-In als unmöglich, bis schließlich eine betrachtete und bemaskte Frau herbei eilt und die Ankommenden begrüßt. Das geschieht zur großen Verwunderung in Bayerisch mit thailändischem Akzent und diesem ersten Indiz auf eine Asia-Unterwanderung des Freistaats sollen weitere folgen: Massagesessel mit chinesischen Schriftzeichen, aus Asien importierte Matratzen und thailändisches Service-Personal das seinen Nachwuchs in Mini-Dirndls verkleidet, um mit diesen das Bildungssystem zu infiltrieren.

Doch aufgrund ihrer langjährigen amicablen Asia-Connection zeigen sich die verkappten Invasoren den Wandervögeln gegenüber freundlich. Auf Anfrage servieren sie ihnen Haxn, Käsespätzle und Kaiserschmarrn, die jedoch allesamt stark gegen Bamberg Culinaire abfallen. Doch die Wanderer lassen sich nichts anmerken, so lange sie sich kostenlos in den Panasonic-Massagestühlen durchwalken lassen dürfen. Mit einem ambivalenten Sättigungsgefühl ziehen sie sich in ihr Zimmer voller Sperrholz-Antiquitäten zurück, um sich auf das nächste Abenteuer vorzubereiten – denn unüberhörbar ruft immerfort der Berg.

Lujasogi. Bayern 2020: Last Exit Pfaffenstein

Der Nähe zu Tschechien geschuldet – und womöglich auch des höheren Arbeitseinsatzes bei geringeren Ansprüchen an die Entlohnung – heißt ein freundlicher Nachbarländer die Wandervögel in ihrer Pension willkommen, wo sie den Tag bei sächsischem Bier mit Blick auf die sächsische Schweiz ausklingen lassen. In doppelter Funktion übernimmt der Concierge am folgenden Morgen auch die Rolle des Frühstücksdirigenten: Hinter einem Zentimeter Plexiglas wirbelt der stämmige Osteuropäer daumengroße Teewurst-Schläuche, wässriges Industrie-Rührei und Treibgas-Brötchen auf Tellern zur Ausgabe. Mit so viel Chemie im Bauch kann das Abenteuer kommen.

Tut es auch, in Form des Pfaffensteins, aka Jungfernsteins, in den Himmel ragender Auswuchs tektonischer Aktivität. Erreichbar durch drei Aufstiege – aber nur der für Profis, mit der als Nadelöhr bekannten Felsenge – Alptraum fetter Hintern und gebärfreudiger Becken – kommt für die Wandervögel in Frage. Doch vor dem Aufstieg steht die Parkplatzsuche. Ein kompliziertes Unterfangen, wenn man zur zweiten Kohorte gehört; jenen, die erst zur Mittagszeit auf Wanderschaft gehen und ihr Fahrzeug am Heidehintern parken müssen. Unerwünschter Nebeneffekt: Wanderung vor der Wanderung.

Der Aufstieg gestaltet sich als wenig problematisch. Allenfalls die Rückstaus an den kniffligeren Passagen offenbaren, dass es die Wanderer mit dem Corona-Sicherheitsabstand nicht all zu eng nehmen – sich jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Hände mit Feuchttüchern entviren, weil sie sich fortlaufend am aus Heizungsrohren zusammengeschweißten Geländer festklammern. Der Umstand, dass auch ein entspannter Trampelpfad auf die Spitze führt, ermöglicht den Aufstieg auch Zeitgenossen, deren Komfortzone sich eng um Normalnull erstreckt.

So beispielsweise der perlbeohringten Frau von Klaus, die unter dem, über die Schultern gelegten Pastellpullover den Familienschnauzer in den Armen trägt. Sie fühlt sich unwohl auf dem Berg, auch weil die Höhe in ihrem ruheständlerischen Gatten Klaus den Klettermaxe weckt. Als Klaus unter Aufbietung aller Kräfte schmale Grade überklettert bricht es aus ihr heraus: „Klaus! Geh da nicht rauf. Klaus! Komm zurück. Klaus! Nein. Klaus! Weißt Du, was ich durchmache?“ Nachdem alle Augen auf die hysterische Bürgerliche gerichtet sind, ergreift diese die ’ultima ratio’: „Klaus! Wenn Du nicht sofort zurückkommst, gehen wir. Klaus! Ich meine es ernst.“ Der auf Durchzug geschaltete Klaus/Maxe bekommt von alldem nichts mit und posiert schließlich vor den missliebigen Augen seines Hausdrachens. War es das wert? Ja! Die Einheimischen kommentieren: „Übelst, geile Schau!“

Nach einem flotten Abstieg klemmen sich die Wandervögel hinters Steuer und kehren langsam aber sicher Sachsen den Rücken. Vor ihnen liegt der erste Bayern-Stopp, der keiner ist. Denn zumindest in den Augen der Einwohner ist ihr Bamberg nicht Bayern sondern Oberfranken. Je stärker die Wandervögel hinschauen und -hören, desto geteilter ist ihr Land; ein Europa im Kleinen. Doch was scheren sie Befindlichkeiten, wenn es Bier und Kulinarisches in weitgehend unzerstörter mittelalterlicher Altstadt zu entdecken geben soll? Doch diese versteckt die hutzelige Stadt, die pfauengleich ihre Winzigkeit durch ein Aufblähen mit unansehnlichen Industrievororten und Trabanten-Stadtteilen kaschiert.

Schließlich gibt Bamberg jedoch auf und die Reisenden kommen in einem frühstückslosen Betonbunker aus den 60er Jahren an. Auf der Suche nach Labung stolpern die Wandervögel das historische Pflaster rauf und runter. Für ein Studium Eingeschriebene und andere Taugenichtse belagern die obere Brücke des alten Rathauses, jeder ein Schlenkerla am Hals und den Nachschub in Papptüten vom Rewe. Die Wandervögel wollen eigentlich stur mittendurch, aber bei so viel Boheme knicken sie dann doch ein: Mit zwei Rauchbier aus der Biermanufaktur um die Ecke mischen sie sich unters Volk, bis sie ihre knurrenden Mägen daran erinnern, dass von Bier allein die Welt nicht heile wird.

So lassen sie sich schließlich auf die Bänke der Kachelofen-Schänke fallen und nachdem die verstrahlte Bedienung ihnen Aufmerksamkeit schenkt und anbietet sich in die Corona-Liste einzutragen, ordern die Hungrigen die „Frankenpfanne“. Es folgt eine Blechschale mit Haxn, Schäuferla und Würschtln auf Bratkartoffeln und Sauerkraut an Klößen. Der dazu gereichte „Wirsing“ ist die Fränkische Guacamole. Mampfend kämpfen sich die Ausgehungerten durch die Fleischberge, bis schließlich selbst der Senftiegel blank ist. Feierabend!

Lujasogi. Bayern 2020: Ab in den Osten

Reisepläne, Schmeisepläne. Der Pandemie geschuldet können sich die Wandervögel ihre Reise nach Kanada in die goldlockigen Haare schmieren. Und das Geld für den Flug als Festiger gleich hinterher. Was tun, wenn Corona eine Schließung der Grenzen zur Folge hat, aber die Sehnsucht nach Abenteuer im Herzen brennt; das unstillbare Bedürfnis von fremden Sprachen und Gebräuchen umgeben zu sein, um als Fremdkörper in einer anderen Kultur das eigene Sein zu reflektieren? Die Wandervögel laden die Rucksäcke kurzerhand in den Kofferraum und brechen auf. Nach Bayern.

Weil die Wandervögel keine Lust auf einen Gewaltstart haben, nähern sie sich ihrer Destination in Etappen. Die erste führt in ein nicht minder exotisches Land als Bayern. Ein Land, dessen Einwohner sich in der gemeinen Wahrnehmung durch übertriebenes völkisches Selbstbewusstsein auszeichnen und die ihre Eigenheit durch eine fortlaufende Pervertierung der Sprache zur Schau stellen. Nach einem entspannten Tag auf der Autobahn mit grundsätzlich zählbaren, des Bildes wegen aber zahllosen Frikadellen und hart gekochten Eiern, passieren die Wandervögel die Landesgrenze von Sachsen und machen sich auf in das Herz der Finsternis, das einst als Karl-Marx-Stadt vergleichsweise wenig auf sich selbst aufmerksam machte.

Der tiefste Osten trotzt dem braunen Mob und begrüßt mit dem Lulatsch, einer regenbogenfarbenen Dauererektion – in den Himmel ragender Auspuffe von Industrieanlagen als homoerotische Phalli zu verkleiden, erscheint zumindest im Vorbeifahren als eine clevere Irritation. Als Gastgeber fungieren „die Ossis“, die Familie eines mit Wandervogel 2 seit knapp einem Jahrzehnt verbandelten im Mittelalter hängengebliebenen Veganers. In unverständlichen, aber der Tonalität nach herzlich gemeinten Lauten, begrüßen sie die Wandervögel. Der Grill ist heiß, das Kind darf einem Fremden sein Bett abtreten und dafür stolz das Lego und die Dinos zeigen. Ein Festival der guten Laune. Doch der Abend ist kurz, denn den Wandervögeln stecken die Autobahnkilometer in den Gräten.

Am kommenden Tag offenbaren sich schnell die unerwünschten Begleiterscheinungen des Besuchs: Durch das penetrante Schnarchen von Wandervogel 2 hat die Kinderzimmer-Orchidee über Nacht alle Blätter fallen lassen. Nach einem Frühstück für das vergleichsweise wenig Tiere sterben und nur einige wenige leiden mussten, geht es – trotz intensiver Boykotte durch den Nachwuchs, der die Auseinandersetzung mit der Nintendo Switch dem Naturerlebnis vorzieht – schließlich dann doch in den wilden Osten. Auf dem Vormittagsprogramm: Die Bastei, mittelalterliche Festung inmitten der sächsischen Schweiz.

Was die Wandervögel in einer sportlichen Stunde abgerissen hätten, entwickelt sich durch die Eigenwilligkeiten minderjähriger Mitreisender zu einem Tagesausflug. Die in einem Augenblick kategorische Bewegungsverweigerung aufgrund akuter Entkräftung, verfliegt beim Anblick von Enten, die alternativlos als Haustiere angeschafft werden müssen, wenn es weitergehen soll. Lautstarke Kritik an der Steil- wie allgemeinen Beschaffenheit des Weges und dessen Länge sind das rote Band, das zur Spitze des Berges führt – von wo aus Wandervogel 1, die Mutter der für die Nacht anvisierten Herberge über ein geringfügig späteres und zeitlich nicht näher terminierbares Ankommen informiert.

Nach in Rucksäcken ausgelaufenen Wasserflaschen, von missliebigen Einheimischen zu Wucherpreisen veräußerten Eisen und einer Fahrt mit der Elbfähre endet der Tagesausflug im Angesicht eines Spielplatzes, der den Augenblicke zuvor noch katatonischen minderjährigen Miteisenden in ein Energiebündel verwandelt und fortan um sich selbst kreisen lässt. Von ihm unbemerkt verabschieden sich die Wandervögel von ihren Gastgebern und machen sich auf nach Bad Schandau – Drehkreuz des Ostens, Brücke nach Tschechien, von Gott vergessenes Kaff an der Güterstrecke, auf der die Waggons im Viertelstundentakt vorbeiholzen.