Chop Chop. China 2017: Prolog im Himmel


Woran es genau gelegen hatte, das konnte Herr Li bei der abendlichen Befragung im Polizeirevier gar nicht sagen. Er gab zu Protokoll, er habe sich schlichtweg ’nicht danach gefühlt‘ aufzustehen, in den Bus zu steigen und wie an jedem andere Tag auch zu seiner Arbeitsstelle zu fahren. Da sei er eben liegen geblieben. Aber er habe ja auch nicht ahnen können, dass sein Kollege Herr Peng sich krank gemeldet hatte. Wie auch? Wenn er gewusst hätte, welches Chaos an diesem Montag ausgebrochen wäre, sicher hätte er anders gehandelt. Da war es aber schon zu spät.

Und so trug es sich zu, dass an diesem schicksalshaften Montag, dem 4. September 2017 eben keine psychologischen Leitsysteme auf dem Flughafen von Peking aufgestellt wurden. Just an diesem Tag, als sich Peng krank meldete und Li sich von der Unlust übermannt fühlte, verzeichnete der Flughafen einen Rekord. Noch nie waren dort so viele internationale Passagiermaschinen in einem so kurzen Zeitfenster gelandet. Eine logistische Meisterleistung, durch die Herr Long sich endlich seine lange in Aussicht gestellte Beförderung sichern wollte. Eine Verkettung von Ereignissen, wie sie denkbar ungünstiger kaum hätte ausfallen können.


Und so ergoss sich an diesem sonnigen, 29 Grad warmen Tag dann ein nicht enden wollender Strom aus Reisenden – unter ihnen viele Laute und Schwitzende – in das Terminal; eine tausendköpfige Masse, die zielsicher ihren Weg in die Halle mit den 25 Schaltern fand, an denen die Grenzer gedankenverloren mit ihren Stempeln spielten und den Strom gelangweilt nadelöhrten.

Als das höhere Wesen an diesem Montag auf seine Schöpfung nieder blickte, seufzte es tief und vergrub sein Gesicht in den Handflächen. Keine Spezies hatte es mit so viel kognitivem Potenzial gesegnet und nun stellten sich die Kreaturen als zu dämlich heraus, selbsttätig Reihen zu bilden, um einen geordneten Fluss zu ermöglichen. Statt dessen zogen sie es vor, möglichst ungeordnet drängelnd die Halle für die Passkontrolle am Pekinger Flughafen zu verstopfen. Eine Frau verlor die Nerven, schrie und warf sich auf den Boden, den sie mit ihren Fäusten bearbeitete. Chaos würde ausbrechen. Es würde mal wieder ein Bauernopfer brauchen, damit sich die Ereignisse nicht überschlugen und die Welt in Trümmern versank. Herr Li sollte dem höheren Wesen als Sündenbock reichen.


Leicht verknittert erwachten die Wandervögel, als der bis auf den letzten Platz besetzte Flieger zur Landung auf Peking ansetzte. „Das Schlimmste haben wir hinter uns“, fasste Wandervogel 2 die weitgehend ereignislose Anreise für Wandervogel 1 zusammen. „Bestimmt“, seufzte Wandervogel 1 und streckte sich.

Das höhere Wesen beschloss, sich das chaotische Treiben noch eine Weile anzusehen, und machte sich ein Bier auf und griff in die Schale mit Kartoffelchips. Während es sich schadenfroh zurücklehnte richtete er seinen Blick auf die beiden blonden und leicht verknitterten Reisenden, die in fröhlicher Unwissenheit in das Terminal schlenderten. „Wenn die wüssten… zwei Stunden wie die Sardinen für drei Minuten Passkontrolle.“

4 Gedanken zu „Chop Chop. China 2017: Prolog im Himmel

  1. moin, moin, nicht das wir uns gleich in einem der gemütlichen Hutongs über den Weg laufen. Wer den anderen als erster sieht bezahlt das Bier. Gruß Torsten aus Beijing 🙂

      • 🙂 besser wäre Dandong gewesen. Hat auch Mauer und kannst mit einem kurzen Spaziergang dir einen Stempel in Nordkorea holen. 🙂

      • … und mir hinterher womöglich die Einreise in die USA auf Jahrzehnte abschminken 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert