Atlantisch. Azoren 2019: Vernebelte Knorpelwürste

Da es in Horta selbst kaum etwas zu sehen gibt, lassen sich die Wandervögel nach einem Balkonfrühstück mit entsetzlicher lokaler Spezialitätenwurst, aber mit entzückendem Atlantikblick auf den wolkenverhangenen Pico, mit der Taxi in die Berge fahren. Fahrer Paulo Brazil ist etwas irritiert, denn bei der Wetterlage würden Landesgäste eher selten zu einer Wanderung um die Caldera und die Gebirge aufbrechen, aber wer sei er denn, dass er die Motive der Zahlenden Kundschaft in Frage stelle. Die verblühten Hytensienhaine – zu anderen Monaten ein überbordendes Farbenmeer – sind Menetekel, das die Wandervögel in ihrer Hybris ignorieren. Darüberhinaus gibt es einen Reiseplan, an dem es festzuhalten gilt.

Nieselregen und Nebel begrüßen die Wandervögel auf dem Gipfel, während Paulo kopfschüttelnd abdüst. Nach der ersten Ecke des Pfades stellen sich die großen Brüder der Naturgewalten vor: Bindfaden und Erbsensuppe. Statt malerischer Kraterseen und prächtiger Flora im Sonnenschein sehen sich die Wandervögel mit Nebel, Nebel und Nebel konfrontiert – eingerahmt von Regen, Regen und Regen. Doch Wandervögel lassen sich nicht von Naturgewalten beeindrucken und machen sich auf den 15 Kilometer langen abwechslungsreichen Wanderweg, der sich alsbald in einen Regenwaldpfad wandelt und sporadisch Formen einer ugandischen Schotterpiste annimmt. Das verbindende Motiv bleibt jedoch: Wasser von oben.

Wo der Reisführer Wiesenspaziergänge verspricht, sauen sich die Reisenden ihre Affenbüxen in nasser Pfefferminze voll und zumindest Wandervogel 1 sehnt sich nach Uganda-Gamaschen. Teilnahmslos nehmen ins Nichts starrende Rinder die dem Niederschlag Trotzenden hin. Sie haben viele kommen und gehen sehen. Als hätten sie nach vier Stunden nicht genug durchgemacht, mischt sich ein Gipfel in den Weg. Wo es steil rauf geht, geht es – nach wenig erfüllendem Blick in die Waschküche – steil wieder hinunter. Die Natur verzweifelt am edelstählernen Willen der Weltreisenden und gibt den Weg frei zum Café O Vulcao, der Dorfkneipe von Capelo.

Wider Erwarten ist das Café weniger Tränke, denn vielmehr das gesellschaftliche Epizentrum der Ortes – zudem der örtliche Supermarkt durch eine Seitentür angeschlossen ist. Messzahl für die Betriebsamkeit des Ortes ist die Zahl der die Durchgangsstraße passierenden Fahrzeuge. Alle fünf Minuten wandern am Tresen verankerte Augenpaare synchron, wenn ein Fahrzeug passiert. Als sei Familie Flodder in die Welt von P’tit Quinquin eingezogen, werden die Durchnässten bei ihrem Bier Zeugen absurder pittoresker Episoden absurden Dorflebens. Bis Paulo Brazil sie mit seinem Mercedes-Taxi schließlich wieder in die Insel-Metropole zurück bugsiert. Und plötzlich fühlt sich Horta mit 7000 Menschen an wie eine Metropole, deren Genpool nicht kurz vor dem Umkippen steht.

Atlantisch. Azoren 2019: Neuer Tag, neue Insel

Um möglichst viel vom Tag zu haben, hat Wandervogel 1 den ersten Flieger auf die zweite Azoren-Insel Faial gebucht. Lange bevor sich die Sonne über den Horizont bemüht, schleppen die Reisenden ihre Kadaver in ein Taxi zum Flughafen und verwarten dort kostbare Lebenszeit. Das freundlich wirkende Hotelpersonal gab ein Lunchpaket auf den Weg, dessen Inhalt dessen wahren Charakters offenbart. Zwischen Weißbrotscheiben geklatschte Augenwurst und Scheiblette, was für ein Start in den Tag. Ebenfalls unter den Wartenden ein Trupp Koriander, die ob ihrer Kleidung offensichtlich einen Outdoorladen ausgeräumt haben – Tropenschlapphüte, Karoblusen und Hosen mit abtrennbaren Beinen inklusive.

Der vermeintliche Direktflug entpuppt sich kurz vor Start als Gabelflug mit einem Stop auf der Insel Terceira. Damit es den Reisenden nicht zu langweilig wird, heißt es bei der ersten Landung: Aussteigen. Im Gänsemarsch geht es über das Rollfeld, wobei die Wandervögel zu verschlafen sind, um auf den Weg zu achten. So finden sie sich unerwartet nicht im Transit-Bereich, sondern vor dem Ausgang des Flughafens wieder. Es folgt ein hektisches Gerenne über Stockwerke und durch idiotische Gepäckkontrollen. Das Ende von Lied ist eine absurde Strophe: Es geht zurück über das Rollfeld in den zuvor verlassenen Flieger zur Weiterreise. Auf die selben Plätze. Kann man sich nicht ausdenken.

Mit einem Affenzahn knattert der Taxifahrer die Wandervögel am Zielort durch die engen Kopfsteinpflasterstraßen der Inselhauptstadt Horta; ein ähnlich verschlafenes Nest wie Ponta Delgada voller knatternder Mopeds und Kleinwagen, die jedoch erstaunlich viel Respekt vor Zebrastreifen haben. Nachdem das Gepäck in der Unterkunft mit Bergblick auf Pico abgeladen wurde, schreiten die Wandervögel zur Erkundung. Der ganze Stolz der Hortaner ist der Supermarkt „Continente“, in dem sich die Reisenden mit Fanta Maracuja und einem dringend benötigten Brathähnchen eindecken, das sie umgehend auf dem Kirchplatz verputzen.

Als Tagesaktivität hat Wandervogel 1 Strandbaden auf die Agenda gesetzt. Ob des flachen Einstiegs bleibt das Vortagsspektakel von Wandervogel 2 aus. Allerdings lässt sich Wandervogel 1 einen spitzen Schrei nicht nehmen, als die Badenden von einem Schwarm fliegender Fische attackiert werden, jedoch alle Parteien das unerwartete Zusammentreffen unbeschadet überstehen. Da die ganzen Flüge und der Schlafmangel dann doch tiefer in den Knochen sitzen als erwartet, lässt sich Wandervogel 1 zu einer frühen Einkehr überreden: Pizza und Wein mit Blick auf den wolkenverhangenen Azorenberg – ein Vorbote für das Desaster, das der kommende Tag bringen wird.

Atlantisch. Azoren 2019: Verwanzt und geschunden

Kurz vor Mitternacht macht das geräumige Zimmer im siebten Stock einen annehmbaren Eindruck. Erst nach dem Aufstehen bemerken die Reisenden, dass sie die letzen Stunden nicht ganz so allein verbrachten, wie erwartet. Bettwanzen täuschend ähnliche Krabbeltiere tummeln sich um kurz vor fünf auf den zurückgeschlagenen Decken. Reflexartig setzt heftigstes Ganzkörperjucken ein. Wandervogel 1 recherchiert die illegalen Untermieter und den breiten Strauß der quasi-tödlichen Krankheiten, die sie potenziell übertragen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass sich die Parasiten unbemerkt durch den Gehörgang in das Gehirn vorgearbeitet haben.

Vor dem Morgengrauen geht es zurück zum Flughafen, wo die Wandervögel binnen einer Minute die Verpflegungsgutscheine vom Vortag verprassen – indem sie sich zwei belegte Brötchen und ein Heißgetränk bestellen. Da portugiesische Piloten ein ganz eigenes Verständnis von Arbeit haben und sicher auch höhere Gewalt im Spiel ist, vertreiben sich die Wandervögel noch viel Zeit, bis die Maschine nach Ponta Delgada dann endlich abhebt und die Anreise endlich beendet ist.

Die Hauptstadt der Azoren präsentiert sich den Wandervögeln als ein verschlafenes Hafennest mit Anfällen von touristischem Größenwahn. Allen voran die Bettenburg, in der die Wandervögel ihr Basislager aufschlagen und sich im Speisesaal durch das Buffet schnäbeln. Bei der Inspektion des Ortes erweist sich der außergewöhnlich hohe Grad der Verschlafenheit als bemerkenswert. Mit deduktiver Logik ermitteln die Wandervögel schließlich die Ursache: Sonntag in der EU = alles zu. Vorbei an Festungsanlagen und über aufwändig gelegtes Mosaikpflaster führt der Weg schließlich zur Tränke vor der Kathedrale, wo sich eine handvoll verirrter Touristen mit einem Mittagsbier runterkühlt. Die Wandervögel tun es den anderen Ortsfremden gleich und schrauben sich in der Mittagssonne ein Entspannungspils in die Krone.

Das soziale Zentrum des Ortes ist ein Betonpodest, auf dem sich Einheimische sonnen, wie die Seelöwen auf Pier 39. Die Wandervögel zieht die Möglichkeit in den Atlantik zu springen an und sie mischen sich unter das Volk. Für den ersten Kontakt mit dem Atlantik macht Wandervogel 2 eine Steintreppe aus. Da die tippelnden, das kalte Wasser fürchtenden Muttis das Geländer blockierenden, entschließt er sich, Geländer Geländer sein zu lassen und auf seine natürliche Balancefähigkeit zu vertrauen. Das Vertrauen wird enttäuscht.

Der glitschig-grüne Bewuchs der Steintreppe widersetzt sich dem forschen Schritt des badefreudigen Weltenbummlers und dreht dessen Schwerpunkt auf halb sieben. Mit den Armen rudernd und vergeblich in der Luft nach Halt suchend, folgt er dem Ruf der Schwerkraft. Wandervogel 2 beschließt aus Gründen der Männlichkeit auf einen spitzen Schrei zu verzichten und sein Schicksal anzunehmen. Hart schlägt er mit dem Steiß auf den Stein. Die vergeblich zu stützen versuchenden Handgelenke reißen auf und weil Treppen nun mal Treppen sind, geben auch die Ellenbogen bereitwillig von ihrer Epidermis ab. So geht es Stufe für Stufe hinab in den Ozean. Das Wasser färbt sich rot. Stille.

Einer Ewigkeit gleichende Sekunden später schießt der vielfach aufgerissene Körper von Wandervogel 2 aus den Wellen hervor. Er schraubt sich in die Höhe und taucht, einem Delfin gleich, erneut in die Fluten. Bei seinem erneuten Auftauchen richtet er seinen Blick zurück zum Ufer. Er fällt auf offen stehende Münder, weit aufgerissene Augen und den fragenden Blick der Rettungsschwimmer. Seine Hand wandert nach oben, er streckt den Daumen in die Höhe und taucht ab. Geschunden aber nicht gebrochen. Dem sorgenvollen Wandervogel 1 ist der Vorfall eher unangenehm. Am Ende der Planscherei besteht der Bademeister darauf, die offenen Wunden mit Jod zu versorgen und händigt dem Geschundenen seine beim Manöver abhanden gekommene Armbanduhr aus, die ein einheimisches Kind aus den Fluten barg.

Auf dem Weg zu einer dringend benötigten Stärkung staunen die Wandervögel über den Innovationsgrad des scheinbar hinterwäldlerischen Ortes. Wie in niederländischen Metropolen bieten Automaten diverse Hamburger-Varianten an, daneben Süßigkeiten, Kondome und aufblasbare Sexpuppen (16 Euro). Aus salzverkrusteten Schaufenstern blicken Bärchen-Souvenirs mit Azoren-Leibchen und androgyne Schaufensterpuppen auf die Flanierenden. Die zieht es schließlich in eine Keller-Kaschemme mit der Option, sich die maritimen Objekte der appetitlichen Begierde auszusuchen, bevor diese auf den Grill wandern. Aber warum sollte am Ende alles gut werden? Als die Wandervögel wohlgenährt aus dem Keller stolpern, hat sich die Sonne verzogen und stürmischer Nieselregen eingestellt. So endet der erste Urlaubstag zerschunden und durchnäßt – Wandervogel-Style.

Atlantisch. Azoren 2019: Neue Abenteuer, alte Feinde

Das Zusammenwirken vielfältiger Gründe zerstörte die originären Reisplanungen der Wandervögel für die zweite Jahreshälfte; Nepal und Kanada fassten sich an den Händen, nickten sich ernst zu und sprangen von der Brücke. Zurück blieb, traurig winkend und angsterfüllt durch das, was auf es zukommen sollte, Portugal. Tatsächlich nicht in seiner Gänze, sondern nur das Filetstück, die Azoren, mitten im atlantischen Nirgendwo. Schließlich benötigten die Wandervögel noch was mit A, denn hinter das Zwasiland hatten die beiden ja bereits einen Haken gesetzt.

Dumpfe Trommelschläge leiten die Abreise der Wandervögel ein. Mit ihrer Freizeit Überforderte verausgabten sich beim Drachenbootrennen auf der Kieler Förde, bejohlt von der um 13 Uhr volltrunkenen neumünsteraner Stadtgemeinschaft. Vom Heimweh geplagt, quetscht sich diese Landplage in den ultimativen Gleichmacher Flughafenzubringer zu den naserümpfenden Globetrottern. Die Rolle der reisebegleitenden Nervensägen übernimmt von der alkoholisierten Unterschicht in Hamburg die chinesische Delegation, die bei ihrem Ausflug nach Nordeuropa das Klima unter- und die eigenen Abwehrkräfte überschätze. Was folgt ist ein Zubringerflug erfüllt von dem Schniefen, Rachenkratzen und Hochhusten, das die Wandervögel eigentlich in China hinter sich gelassen glaubten. Geister der Vergangenheit.

Noch mehr von der Sorte erwartet die Wandervögel in Frankfurt. Wie sollte es anders sein, sind es die Erzfeinde der Reisenden, fleischgewordene Flugscham in Form einer vielköpfigen Horde Koriander. Um die unendlich lange Wartezeit auf den Anschlussflug nach Lissabon zu längen, aktivieren die Koriander ihre infantilen Nervensägen, freilaufender hochenergetischer Terror. Die Brut entfaltet im verspäteten Flieger dann seine ganze fatale Wucht, als der kleine Ling mit der App „Keyboard“ auf Papa Lings Samsung-Telefon die Mitreisenden im Umkreis von sechs Sitzreihen in den Wahnsinn treibt. Offenbar auch die Piloten, die sich nicht mehr an ihr Versprechen gebunden sehen, die Verspätung wieder aufzuholen.

Statt eines zügigen Weiterflugs erwartet die Wandervögel in der portugiesischen Landeshauptstadt Zettel schwenkendes Personal. Taxigutscheine, Hotelgutscheine, Verzehrgutscheine und neue Bordkarten für den nächsten Flug um 7 Uhr am Folgetag. Völlig ausreichend, wenn man sich anderthalb Stunden zuvor am Flugzeughof einfände. „Halb sechs? Ernsthaft?“ schallt es aus den ungläubigen zu Schlitzen verkniffenen Augen der Wandervögel? „Mas claro, Caro!“ Der Versuch die Essensgutscheine einzulösen, scheitert an der Arbeitsmoral des Service-Personals, das mit beschwichtigenden Gesten abwinkt, abkordelt und restliche Lebensmittel lieber in Schweineeimern entsorgt, als eine Minute später in den Feierabend zu gehen. Dann eben hungrig ins Bett, statt mit einem Eimer von KFC.

Vor das Bett hat Gott das Taxi gestellt. Als nicht die Einzigen vom Verspätungsschicksal Betroffenen, reihen sich die Wandervögel in die endlose Reihe der auf Taxis Wartenden ein. Die Laune des Taxifahrers kippt kurz nach Fahrtantritt aufgrund eines Missverständnisses: eine Fehlinterpretation der jovialen Zwei-Finger-Geste von Wandervogel 2, die zwei Fahrgäste und nicht zwei Taxigutscheine signalisieren sollte. Trotz halber Beute knattert er durch das nächtliche Lissabon und kippt die Reisenden vor einer Blau leuchtenden Bettenburg aus. Die wichtigen Antworten erhält Wandervogel 1 beim Check-In: „Frühstück dann ab sieben. Ach da sind sie schon weg? Ja, bedauerlich. Boa noite.“