Hexhex. Harz 2021: Luchslos

Die erste Nacht in der winzigen und auf das Heftigste überdekorierten Ferienwohnung endet früh, denn das Wanderküken macht röchelnd auf seinen ersten Schnupfen aufmerksam. Überdies hinterließ das Nachtlager aus durchgefurzter Federkernmatraze mit Memoryfoam-Topper bei den Futongestählten verspannende bis verstörende Eindrücke. Bei der Morgentoilette entdeckt Wandervogel 2 eine architektonische Eigenart der Butze: Der tiefste Punkt des Waschraums liegt keinesfalls – wie erwartet – innerhalb der ebenerdigen Dusche, sondern knapp einen Meter davor. Wildes, unkoordiniertes Feudeln mit einem Waschlappen ist die Konsequenz.

Mit viel zu starkem Kaffee und Fischbrötchen setzen die Wandervögel ein klares Zeichen in Richtung Schluss mit Lustig und brechen in Richtung Bad Harzburg auf. Den Ortskern lassen die Reisenden geflissentlich hinter sich, um direkt den ortsrandigen Baumwipfelpfad anzusteuern. Eine unaufgeregte Stahlkonstruktion mit überschaubarer Steigung führt zu einer Aussichtsplattform, die den Blick freigibt auf eine Hotelbaustelle im Bergwald. Wohlfürchtend, dass empörte Kundschaft angesichts dieser antiklimatischen Attraktion ihr Geld zurückfordern könnte, klittern die Betreiber den Bildungspfad mit Infotafeln zur Erdgeschichte. Diorama mit Schleich-Dinos inklusive. Kann man sich nicht ausdenken, muss man nicht gesehen haben.

So geht es dann ab in die nadelwäldliche Botanik zum sagenumwobenen Luchsgehege. Extra für die Wandervögel wurde nicht nur die Fütterung der scheuen Wildtiere ersatzlos gestrichen, sondern auch die Tiere kurzerhand versteckt. So kehren die Wandervögel in der Bergschänke zur Rabenklippe ein und platzieren sich zwischen lederhäutigen Rentnerinnen, die ihre Zigaretten in der Sonne genießen und sonnenverbrannten Gästen, die einander von ihren prägendsten Lebensereignissen berichten. („Auch mit Käse. Ich sag’s Dir: Einwandfrei. Gibt es auch im Internet. Windbeutelkoenig.de. Ein-wand-frei!“)

Immerhin hat das Trio Infernale beim Abstieg die Natur für sich – oder das, was von ihr übrig ist. Der Blick schweift über kahle Stellen, an denen Klimaerwärmung und Buchdruckerkäfer einst saftig grüne Fichten in kahlweiße Gräten verwandelt haben. Untermalt vom leisen Röcheln des schnottverkrusteten Wanderkükens, dessen Immunsystem gegen die virulenten Invasoren kämpft. Um sein Leid zu lindern, beschließen die verantwortungsvollen Eltern eine Investition: Der ungeschickte Einsatz einer Nasenschleim-Pipette mit extra großem Pumpbeutel soll das Kücken nachhaltig traumatisieren. Jeder Augenblick ein Geschenk, so steht es auf den Wohnmobilen.

Hexhex. Harz 2021: Terra incognita

Da eine Pandemie nachweislich nicht dazu in der Lage ist, die Wandervögel von ihren Abenteuern abzuhalten, schafft das auch ein Nachwuchs nicht. Wenngleich
Wanderküken 1 das Niveau merklich in die Höhe schraubt, gilt es doch neben Klamotten und Alltagsutensilien auch Kinderwagen und Spielzeug im babybeschalten Wandervogelmobil zu verstauen. Schließlich scheint es, als reklamiert das Küken mit seinem Gebimsel mehr Platz als die Reiseleitung. Eingepfercht zwischen Säugling, Sack und Pack rollt das Trio auf die Autobahn. Wohin soll das bloß führen? In den Harz natürlich. Mekka junger Familien, Paradies der Naturliebhaber, Valhalla rüstiger Rentner.

Hasenbrote und Möhren mümmelnd brettert das Trio gen Süden. Vorbei an hunderten LKW, deren Planen hirnerweichende Kalendersprüche zieren, während das Küken friedlich schlummert. Beim ersten Stop nach drei Stunden zeigt die bis dato völlig belanglose Reise erste Wandervogel-Style-Qualitäten: Genüsslich verinnerlicht sich Wandervogel 2 ein Reststück des vortäglich gebackenen Pflaumenkuchens, nur um beim zweiten Bissen festzustellen, dass in der Mundhöhle nichts ist wie zuvor. Zum Glück erwiesen sich Kunststofffüllungen in der Vergangenheit als wohlbekömmlich. Also eine Woche rechts kauen und hoffen, dass eine dentale Kettenreaktion ausbleibt.

Die Destination Wernigerode begrüßt mit einem Industriegebiet, dominiert von einer Brauerei, die wiederum die Gastronomie des Ortes dominiert. Es könnte schlimmer sein. Alsbald übergibt die Industrie an die Tradition und eine Fachwerksexplosion ballert den Wandervögeln in die Optik. In der Innenstadt reiht sich Gemäuer an Gemäuer, wenngleich der Charme 500 Jahre alter Handwerkskunst sich nicht so recht mit dem modernen Innenleben in Einklang bringen lassen will. So passieren die drei Wanderer dutzende Schuhläden und Spezialitäten-Manufakturen die vakuumisierte Wurstwaren und Schnäpse feil bieten. Schlimmer noch ist das motivische Band, denn alle Produkte weisen einen namentlichen Bezug zu Hexen oder dem Teufel auf. Wie überaus originell.

Die geschmackliche Krönung schlägt am Ende des Ortes ins Gesicht: hier ragt das Wernigerode-Eye in den Himmel. Umgeben ist das gemächlich seine Kreise ziehende, Riesenrad von einem urigen Rummel – Softeis und Zuckerwatte inklusive. Die ihrer Freude über diese Unterhaltung in glucksenden Lauten Ausdruck verleihenden Menschen, lassen Wandervogel 2 misstrauisch werden. Hier scheint etwas nicht zu stimmen. Die zahllosen schlecht gefärbten Frisuren verstärken den Eindruck, der sich zu einer unheilvollen Befürchtung verdichtet. Die Gewissheit schlägt wie üblich unvorbereiteten und geografisch unkundigen Wandervogel 2 schließlich mit all ihrer Wucht die Brille aus dem Gesicht, als das Trio das mdr-Regionalstudio passiert: Sie befinden sich im Osten!

Íngreme. Madeira 2020: All over now

Zurück in der Ebene sind die Schnorchel mit Süßwasser ausgewaschen und die kurzen Hosen nach hinten in den Schrank sortiert während die Sandalen lüftend auf dem Balkon baumeln. Wer das Madeira-Abenteuer der Wandervögel (noch einmal) erleben möchte, findet hier alle Beiträge in chronologischer Reihenfolge:

Íngreme. Madeira 2020: Aufbruch ins Ungewisse
Íngreme. Madeira 2020: Unter Bauern
Íngreme. Madeira 2020: Perverses Piepen
Íngreme. Madeira 2020: Bei Jesus oben ohne
Íngreme. Madeira 2020: Welliger Bettenwechsel
Íngreme. Madeira 2020: Alles nach Plan
Íngreme. Madeira 2020: Busfahrende Covidioten
Íngreme. Madeira 2020: Atlantisches Inferno
Íngreme. Madeira 2020: Treibender Bauwahn
Íngreme. Madeira 2020: Wasserfall mit Kopfnuss
Íngreme. Madeira 2020: Effektives Ritzen

Íngreme. Madeira 2020: Effektives Ritzen

Entgegen der Vorannahme ist der Norden der Insel schneller durchgespielt als vorgesehen. Die Gubbeligkeit der Unterkunft befeuert den Gedanken einer vorzeitigen Weiterreise zurück in den Süden der Insel, und nach Eiern mit Atlantikblick auf dem Minibalkon, geht es mit allen Rucksäcken wieder auf die Straße. Die fehlenden Kerben im Colt wollen die Wandervögel auf dem Weg ritzen. Die erste Kerbe sollen die Ruinen in der Bucht von Calhau de São Jorge bringen. Allerdings erweist sich das Trümmerfeld schon nach halbem Abstieg als derart unspektakulär, dass die Absteigenden beschließen, auf eine nähere Inspektion zu verzichten. Auch weil die Geräusche der in der Hängen nistenden Erdwespen sich selbst mit überbordender Fantasie nicht als freundliches Willkommen interpretieren lassen. Ab in die Gurke und weiter auf den Serpentinen.

Der Miradouro do Guindaste soll die zweite Kerbe bringen. Kraxel, kraxel, latsch, latsch und nach drei Minuten genießen die Wandervögel auf einer Klippe im Meer stehend den Blick über klares Atlantikwasser bis zum Horizont. Doch das azurblaue Idyll währt nur einen Atemzug, bis die Reiseleitung einen strengen Uringeruch wahrnimmt. Entgegen ihrer detektivischen Neigungen verzichten die Reisenden auf Nachforschungen und greifen die olfaktorische Eigenart als Argument für die Weiterreise auf. Diese soll zum ‚Balkon‘ von Ribeiro Frio führen, eine natürliche Felsformation, die nach kurzer Waldwanderung einen spektakulären Ausblick verspricht. Das Wetter nutzt selbst dieses kurze Zeitfenster für Sperenzien: Nach einem satten Guss verhüllt sich der vermeintlich spektakuläre Blick in dunstigen Nebel. So erfreuen sich die Enttäuschten eben am Spiel der possierlichen Spatzen, die sich an der Tränke balgen.

Durch von teilnahmslos dreinblickenden Bergschafen bewohnte Nadelwälder geht es nach Caniço im Süden, wo das letzte Basislager bezogen werden soll. Da bis zur Schlüsselübergabe noch reichlich Zeit ist, beschließt die Reiseleitung einen Badestop – in der Hoffnung, das Problem mit der Kanalisation seit mittlerweile beseitigt. Vor Ort weist ein Schild darauf hin, dass die Badestelle mittlerweile ‚unbewacht‘ sei, was Wandervogel 1 nicht davon abhält, mit Schnorchel und Maske in die Meeresfluten zu springen. Das Badevergnügen trübt lediglich, was die Reiseleitung in Badeeuphorie übersah und dafür nach dem Eintauchen um so eindrücklicher wahrnimmt: zahlreiche Bauarbeiter sind damit beschäftigt, Rohrleitungen zu flicken, die in das natürliche Badebecken münden. Angesichts des Vorwissens um das kloakische Problem der piscina naturale am Praia Reis Magos ist das dann zu viel Natürlichkeit.

Als deutlich bessere Badealternative erweist sich erneut das Meerwasserbad im örtlichen Resort-Hotel. Das Wetter zeigt sich einsichtig, so dass auch die Tiefsee den Schnorchelnden offensteht. So entschließen sich die Wasservögel dann auch, die letzten Tage ihrer Reise auf die Atlantik-Insel der Beobachtung des aquatischen Lebens zu widmen und sich vom Sprungbrett in die Fluten zu stürzen. Im Nachhinein soll sich die Abkühlung als hervorragende Idee erweisen, denn während die Maschine zum Abflug auf die Piste rollt, stellt sich die Klimaanlage defekt heraus. Während die Maskenvögel eine Stunde mit den anderen Sardinen in der Büchse schwitzen, schwelgen sie in Erinnerungen an widerspenstige Haushaltsgeräte, vernebelte Panoramen und den Gestank der Kupplung. Bis zum nächsten Abenteuer.

Íngreme. Madeira 2020: Wasserfall mit Kopfnuss

Im Baulärm-Exil bemühen sich die Wandervögel um Ausschlafen. Doch es kann nicht sein, was nicht sein soll. An die Stelle der fröhlichen Handwerker vom Vortag tritt ein sehr ambitionierter Glöckner-Azubi, der mit großer Hingabe an seinen Strängen herumreißt. Die aus diesen Aktivitäten resultierende Kakophonie in Bronze ist wenig wohlklingend, aber wohl sehr weckend. So machen sich die Erweckten dann aus Gründen der Glockenflucht entgegen der Planung frühzeitig auf den Weg zur Tagesaktivität, ein Wasserfall-Gewaltmarsch. Der Weg dorthin schlängelt sich wieder durch menschenleere Dörfer. Lediglich in einer weniger haarnadeligen Kurve verkauft ein Landwirt die Früchte seiner Arbeit von der Pritsche seines Lastwagens. Da der Bedarf der Wandervögel an Kürbis und Zucchini gerade überschaubar ist, bleibt es bei einem freundlichen Winken.

Kühle Bergluft und der Schatten des dichten Blätterdachs sorgen für ein gemäßigtes Klima, in dem die Hortensienhaine der brennenden Sonne besser widerstehen und ihre Farbe behalten. Geleitet von diesen blauen Tupfern geht es entlang der Levada Caldeirao Verde leicht bergauf durch den Wald. Der Boden überzogen von knorrigen Wurzelwerk, das anmutet wie ein in der Bewegung eingefrorener Schwarm Aale. Vereinzelte Artgenossen kämpfen sich entgegen der Strömung den eingefassten Flusslauf hinauf. Um noch mehr Abwechslung in die idyllische Aktivität zu bringen, führt der Pfad durch pechschwarze Tunnel. In mehreren Akten seine Nachtsicht überschätzende Überheblichkeit nutzt Wandervogel 2 die Lichtlosigkeit sich seinen Schädel anzuschlagen und seine Tevas im eiskalten Matsch zu versenken.

Im Verlauf wird der zulaufende Pfad zum Drahtseilakt, bei dem sich die Verwendung der drahtseilernen Führung als sinnvoll erweist; insbesondere bei aufkommendem Gegenverkehr, der ein akrobatisches Schauspiel zur Folge hat. Ob der Enge spreizt eine Partei die Beine über die Levada und klammert sich an die zuvor unerwähnte Felswand, um die andere (hier stets: die Wandervögel) passieren zu lassen. Bei diesen Begegnungen sinniert die Reiseleitung über die wachsende Grußfäule und darüber, dass die Franzosen darauf bestünden, alle Welt in ihrer Sprache zu begrüßen. Diese Beobachtung verarbeitend, besinnt sich Wandervogel 2 auf sein heimatverbundliches Sendungsbewusstsein. Fortan schallt den Wandervögeln Entgegenkommenden ein inbrünstiges ‚Moin‘ entgegen.

Der Lohn wanderischer Mühen kommt nach sechseinhalb Kilometern in Sicht. Am Ende der Levada stürzt sich ein 100 Meter hoher Wasserfall in die grüne Tiefe. Kekse knuspernd betrachten die Wandervögel das Schauspiel und nehmen sich des Rückwegs an. Aufgrund der weit fortgeschrittenen Tageszeit bleiben Gegenverkehre und damit einhergehende Levadaspagate aus. Nur kurz vor dem Ende ihres Weges begegnet die Reisegruppe einem leicht bekleideten wie bepackten Pärchen, dass den Rückweg in Dunkelheit in Kauf nimmt. Fröhlich und unbedarft wandern diese in ihr Verderben – nie wieder ward’ von ihnen gehört. Seltsam, aber so steht es geschrieben.